Riesenschlange
Wieder sieht er sich im nebelfrierenden Nachtwald stehen. Zittern in den Händen, dieses dumpfe Lähmungszittern in allen Muskelfasern, das dich in solchen Träumen befällt, wenn der Augenblick gekommen ist, da diese Riesen große Schlange ihr hochhausgroßes Maul aufsperrt, um dich zu verschlingen und dir völlig unsteuerbar das Schwert aus der Hand fällt.
Einen Augenblick lang hatte er die Kraft gesammelt und geglaubt, im nächsten Moment dieses Gesicht mit einem einzigen Faustschlag zermatschen zu können. Nichts ringsumher existierte noch, nicht einmal die kriechende Kälte, die sich wie unsichtbare Dämonen durch das skelettierte Unterholzgestrüpp fortptlanzte gleich einer Epedemie fraß- gieriger Heuschreckenschwärme.
Doch dann dieser Geistesblitz, aufgetaucht aus lahmgelegt geglaubten Regionen seines überwältigten Hirns. Nicht einfach, einen Menschen so mir-nichts-dir-nichts auszulöschen. Unrasiert, hautklebrig, bierschwitzend in kaltrauchiger Zimmer- luft starrt er auf die glatten Kugeln mit ebenso polierten Ziffern drauf. Lottozahlen am Samstag, freundlich-trügerisches Abbild allgemeiner Gesellschaftsgier ein jedes Individuum dorthin zu stellen, wo es im Massenstrudel zu schwimmen hat.
Wie nebenher entzündet sich das Feuerzeug fast von selbst, giersaugend warmen Rauch geschmack, der für einen Augenblick den säuerlichen Gestank im Zimmer überlagert, trocken aromatisch und entspannend würzig. Warum eigentlich hat man bei jedem ersten Zigarettenzug stets das Gefühl, niemals damit Schluß machen zu müssen?
Eine beinahe schon religiöse Fingerbewegung, nicht ungraziös und doch so nebensächlich, die Asche von der Glut abzuschnippen. Immer freudigen Erwartens, daß die freigelegte Glut ihre warme Räte ausströmt wie am Meereshorizont aufgehende Sonne nach einer frostklaren Standnacht.
Dieser kurze Moment beeindruckend geballter Wutkraft in allen körperteilen, heute Nacht im Park, die sich übermächtig selbst behindert gezielt zu reagieren, dringt ihm wiederum in‘s Bewußtsein wie eine deutliche Kindheitserinnerung. Der blau-kalte Mondschein flimmer hatte die Konturen von Weiden- ästen auf die rissige Haut des andern gemalt.
Just in dem Augenblick, da er plötzlich vor ihm aufgetaucht war, durchströmte zu gleicher Zeit unglaubliche Hitze und atemgefrierende Kälte seine Nackenhaut. Nie zuvor hatte er jemals das Gefühl gehabt, sogleich etwas tun zu müssen, was er mit nichts in seinem Innersten vereinbaren konnte.
An der vergilbten Zimmerdecke spielen über-hastige Fernsehlichtschatten Verstecken mit den um die lieblos an krüpplige Kabel geknotete Glühbirne kreisenden Eintagsfliegen. Seit Monaten vertrocknete Zimmerpflanzen recken ihre toten Stielhälse nach den Zigaretten Qualmschwaden, die in Brusthöhe einen schwebenden Teppich bilden, als würden sie dort zusammenwachsen wollen.
Arm stützend sitzt er auf der Bettkante, betrachtet teilnahmslos seine Fußnägel und wirft die Kippe auf den Asche haufen im Spaghettiteller. Wie erstarrte Regenwürmer rekeln sich die vertrockneten Teigwaren in poröser Ketchup-Lache. Friedlich stummbebildert endet der Kalendertag zwei Stunden überfällig vor dem Sendeschluss.
Kaum zu glauben, daß er noch vor Stunden um Haaresbreite einen wildfremden Menschen hätte erschlagen können... wollen? Ein letzter klarer Schluck aus der Bierflasche und ein Tastendruck auf die Fernbedienung beenden auch seinen Tag. In schlaftrunkener Wonne verdumpfen die Bilder des Abends, schlängeln sich in kaum spürbare Traumbilder.
Gegen 3 Uhr reißt ihn ein Geräusch aus den Kissen. Mit weit aufgerissen Augen sucht er die Dunkelheit im Zimmer ab, das Keuchen und Röcheln ist zurückgekehrt. Dazu das Bild dieses Grimassenschädels, den er nicht mehr von Angesicht zu Angesicht erwartet hatte, nachdem er weggerannt war, als er, aufgeschreckt durch diese todesängstlichen Schreie, diese brutale Vergewaltigung mit hatte ansehen müssen.
Ein zweites Mal war er geflüchtet, statt erbarmungslos zuzuschlagen oder zumindest zu helfen und er wird immer wieder davon laufen - jeden Abend zwischen Lottozahlen und Sendeschluss, mit 10 Flaschen Bier in den gelähmten Adern.
*Hier klicken zum Start des Gedichtbandes -> “Kopfgeburt - mit der Glocke am Kragen” von Jens Thieme, 1992.