Der Vogel
Stasi Haft 23. November 1985
Der Arm scheint zu heilen.
Ich spüre kaum noch Schmerzen.
Der Gips wird noch vor Weihnachten abgenommen.
In letzter Zeit ist ein deutlicher Anstieg der Transporte zu verzeichnen.
Manche Zellen verlieren 3-4 Kameraden pro Woche.
Letzte Woche gab es sogar zwei Transporte.
Am Dienstag haben wir uns von zwei unserer Freunde verabschiedet.
Am Donnerstag nicht, aber unsere Nachbarn schickten fünf Leute auf einmal.
Wird sich das durchsetzen oder ist es der Höhepunkt vor einer ruhigen und frustrierenden Weihnachtszeit?
Alle Familienbesuche drehen sich um dieses Thema, und es werden festliche Leckereien gesammelt.
Es ist, als ob wir uns alle auf eine grosse Party vorbereiten, um die Bastarde, die uns hier festhalten, zu ignorieren und die Zukunft zu feiern.
Meine Eltern brachten wieder Süssigkeiten und Früchte aus dem Westen mit, etwas italienische Salami und einen weiteren versteckten Vorrat an Bargeld, mit dem ich alles andere kaufen konnte.
Sie haben letzte Woche auch einen meiner Anwälte gesehen: Wolfgang Vogel.
Es heisst, er würde die Angehörigen nur bei einem ersten Treffen sehen und dann an einen Unterbeauftragten übergeben.
Natürlich konnte er nichts über den Stand der Dinge sagen, aber er versicherte ihnen, dass zwischen den beiden Staaten Verhandlungen geführt werden.
Bundeskanzler Helmut Schmidt verhandelt mit Wolfgang Vogel, einem meiner Anwälte, über den Handel mit politischen Gefangenen und den Austausch von Spionen.
Es ist hier allgemein bekannt, dass Vogel politischen Gefangenen zugewiesen wird, die in den Westen verkauft werden sollen.
Auf diese Weise erwirtschaftet der Staat harte Währung, mit der er die Orangen und Bananen importiert werden, die meine Eltern dann hierher bringen, zu den politischen Gefangenen, die es nicht geben darf.
"Sie müssen verstehen, dass diese Verhandlungen sehr heikel und geheim sind und sich manchmal über Monate hinziehen. Vogel versuchte, meine Mutter zu beruhigen.
Wir führen hier die Namen der Anwälte, die mit den Verkaufsfällen betraut sind.
Wolfgang Vogel ist der oberste Häftlingsverkäufer, der auch für den Austausch von Spionen zuständig ist.
Lothar Jarosh ist der neue Name, den meine Eltern von Vogel erfahren haben.
Sie verhandeln auch mit anderen Anwälten im Westen:
Barbara von der Schulenburg und Wolf-Egbert Näumann.
Ein Gefangener kann je nach Beruf 40'000-90'000 D-Mark wert sein.
Wir alle hassen Vogel, weil er eindeutig nicht unabhängig ist.
Es gibt sogar Gerüchte, dass er ein Informant der Stasi ist.
Was für ein Anwalt! Er fährt eine Volvo-Limousine wie die Politiker des Staates und überquert die Grenze nach Belieben.
Natürlich muss die westdeutsche Regierung in dieser Angelegenheit ein gutes Gesicht zum bösartigen Spiel zeigen.
Ihr Ziel ist es, uns hier rauszuholen und die DDR Führung kauft mit den Erlösen Westwaren ein, um die Bevölkerung vom Aufstand abzuhalten.
Wenn sie mich also verkaufen, wird es einige DDR-Kinder geben, die freudig ein paar West-Bananen mampfen, die mit diesem Geld gekauft wurden.
Hintergrundentwicklungen:
Eine ehemalige Freundin und ihre Eltern (die auch durch das Stasi-Gefängnissystem gegangen sind) haben mich aktiv unterstützt, ohne dass ich es wusste.
*Zeitzeugenbericht -> Beginn. Dieser Blogeintrag ist Teil eines linear erzählten Zeugenberichts des Zeitzeugen Jens Thieme der 1985-1986 als politischer Häftling in verschiedenen DDR Gefängnissen vom DDR Ministerium für Staatssicherheit eingesperrt wurde. Stasihaft, Stasi-Haft, Stasi Haft, Stasigefängnis, Stasi-Gefängnis, Stasi Gefängnis.