Die Vietnamesenparty

Leipzig Grünau 13. April 1985

Mitternacht.

Ich beschliesse, einer Einladung einiger vietnamesischer Freunde in der Nachbarschaft zu folgen.
Es ist bizarr.
Während Dutzende ehemaliger Südvietnamesen in Arbeitslagern sterben oder hingerichtet werden, während wir unsere Gläser erheben, geniessen diese Studenten die Unterstützung der kommunistischen Brüder in Osteuropa, um ihre Perspektiven zu feiern.

Asyl für vietnamesische Arbeiter in Leipzig Grünau im Jahr 1985.

Während diese armen Menschen nichts von den Lügen und Grausamkeiten wissen, die ihre Regierung ihren Landsleuten zufügt, und von den leeren Versprechungen, denen sie zum Opfer gefallen sind, stürzt das Kartenhaus, in dem ich aufgewachsen bin, weiter ein.

Betrunken und mit schmerzendem Herzen wandere ich nach Hause.
Durch meinen nebligen Geist und die neblige, von bernsteinfarbenen Straßenlaternen durchzogene Luft beginne ich einen Brief zu formulieren.

Ein Brief, der meinen Eltern eine Erklärung, aber keinen Trost geben würde, warum ich sie verlassen habe.
Warum ich mich entschieden habe, dieses Leben zu beenden.
Warum ich sie zurückgelassen habe.
An diesem Ort, der alles Lächeln verschluckt.

In meinem Zimmer angekommen, verbringe ich die nächsten zwei Stunden mit Schreiben und nachdenken, wie ich sie schützen kann. Da ich niemandem von meinen Plänen und meinem verzweifelten Gemütszustand erzählt habe, muss ich besonders vorsichtig sein, um die Instinkte meiner Eltern nicht zu wecken.
Ich muss sie auch vor Sorgen um mich schützen wenn ich nicht mehr da bin, so gut es geht.

Und ich muss sie im Ungewissen lassen.
Und trotzdem: Sie müssen wissen, dass ich weg bin.

Und dass ich sie liebe.

 

*Zeitzeugenbericht -> Beginn. Dieser Blogeintrag ist Teil eines linear erzählten Zeugenberichts des Zeitzeugen Jens Thieme der 1985-1986 als politischer Häftling in verschiedenen DDR Gefängnissen vom DDR Ministerium für Staatssicherheit eingesperrt wurde. Stasihaft, Stasi-Haft, Stasi Haft, Stasigefängnis, Stasi-Gefängnis, Stasi Gefängnis.