Hungerstreik?
Stasi Haft 20. April 1985
Kleines Missgeschick: Unsere Fleischerhemden sind gestern Abend zusammen auf dem Tisch gelandet.
Also werde ich heute wohl seins tragen. Das wäre der schlimmste Fall.
Heute ist kein Verhör, es ist Samstag.
Das Frühstück sieht anders aus als an den anderen Tagen.
Brötchen, echte Butter, Marmelade, Kaffee.
"Ist das normal?"
"Was meinst du?"
"An den anderen Tagen gab es nur hartes Roggenbrot und Margarine."
"Es ist Wochenende, am Wochenende ist das Essen immer besser. An Feiertagen ist das Essen wirklich gut. Sogar mit Broiler."
Was ich von Dirk weiß ist, dass er versucht hat, einen Brief an einen bayerischen Fernsehsender zu schicken, in dem er sich über seinen abgelehnten Ausreiseantrag beschwert.
Zumindest behauptet er, dass er das getan hat.
Offenbar war er zuvor mit zwei weiteren Häftlingen zusammen, die nach ihrem Prozess weitergezogen sind.
Einer versuchte, über die Grenze zu fliehen, wurde aber bei den Vorbereitungen erwischt. Strafe: 1 Jahr und 8 Monate.
"Was glaubst Du, was Du bekommen wirst?"
"Keine Ahnung. Ich kenne nicht einmal den Paragraphen."
"Einen Brief an einen westdeutschen Fernsehsender schicken? Sollte §219 sein."
"Was ist das?"
"Unerlaubte Kontaktaufnahme mit einer ausländischen Macht."
"Ich dachte §214?"
"Wenn Du einer Behörde gedroht hast, dass Du das tun wirst, ja, dann kommt das noch dazu."
Dirk scheint ein bisschen ratlos zu sein.
Oder er schauspielert gut.
Glaube ich aber nicht.
"Was glaubst Du, was ich bekomme?"
"3 Jahre, wenn Du Glück hast."
-Schweigen
Dirk scheint schockiert zu sein.
"Hör zu. Ich weiß es nicht, ok?!"
"Ich habe ihnen nicht gedroht."
"Ich habe nicht nach Details gefragt."
"Wird es dann weniger sein?"
"Ich weiß es nicht."
"Warum bist du so aggressiv?"
Ist er einfach nur naiv oder versucht er etwas?
"Hör zu: Ich kenne DIch nicht, mir ist schwindlig und ich bin kein Anwalt."
-Pause
"Warum isst Du nicht?"
"Hab ich Dir bereits erzählt!"
-Schweigen
Ein Callboy bringt uns "nach draußen".
Wir gehen zusammen, werden aber getrennt, als wir die Zellen im Hof betreten.
Wir teilen uns also eine Zelle und reden den ganzen Tag, aber hier draußen können wir das nicht?
"Dirk!"
"SCHWEIG GEFANGENER ODER DU GEHST SOFORT WIEDER REIN!"
Mein Gott!
Nach unseren glorreichen 30 Minuten sind wir wieder drinnen.
"Warum fragst du mich ständig nach dem Hungerstreik?"
"Weil ich ihn für dumm halte."
"Magst Du das erklären?"
"Siehst Du, Du bist jetzt hier drin. Du hast den ersten Schritt gemacht. Es ist vollbracht. Was versuchst Du zu erreichen? Ein Hungerstreik wird weder der Geschwindigkeit des Prozesses noch Deiner Gesundheit helfen. Du hast ein Ziel. Aber Du riskierst es. Dein Ziel ist, gesund in den Westen zu kommen, richtig?"
-Schweigen
"RICHTIG?!"
"Halt die Klappe!"
*Zeitzeugenbericht -> Beginn. Dieser Blogeintrag ist Teil eines linear erzählten Zeugenberichts des Zeitzeugen Jens Thieme der 1985-1986 als politischer Häftling in verschiedenen DDR Gefängnissen vom DDR Ministerium für Staatssicherheit eingesperrt wurde. Stasihaft, Stasi-Haft, Stasi Haft, Stasigefängnis, Stasi-Gefängnis, Stasi Gefängnis.