Rot feiern

Stasi Untersuchungshaft 1. Mai 1985

Weissmehlbrötchen und Marmelade zum Frühstück.
Echter Kaffee mit Sahne und Zucker.
Heute kein Verhör.

Heute ist der 1. Mai.
Feiertag.
Wir feiern ROT.

Heute zeigen sie der Welt wieder, wie toll alles ist.
Panzer und Raketen werden über die Karl-Marx-Allee rollen.
Paramilitärische Kampftruppen werden aufmarschieren.

Busladungen des "wahren Volkes", der Arbeiter und Bauern, denen "das Land gehört", werden applaudieren, dumme Uniformen tragen und sich am Nachmittag betrinken. Wenn Kinder ihre Eltern nach dem Zweck des ganzen Aufruhrs fragen, wiederholen sie entweder, was die staatlichen Medien und die Lautsprecher in die Massen kotzen, oder ihre Eltern haben keine aufklärende Antwort - so wie ich es als Kind erlebt hatte, bis ich meinen Vater fragte, warum er einer der wenigen ist, der keine Staats- oder rote Flagge an unserem Fenster hisst.

"Es bedeutet mir nichts."

Ich muss damals 8 oder 9 Jahre alt gewesen sein, und das war das erste Mal, dass ich merkte, dass mehr dahinter steckte, als nur, dass er nicht hinter der ganzen Sache steckte.

Je sensibler ich wurde, desto mehr achtete ich auf solche Eindrücke und Episoden in meiner und anderen Familien und Kreisen, und als ich 13 war, sass ich zwischen dem grossen, klebrigen roten Glibber, den SIE in mein kleines Gehirn gepresst hatten, und der realen Welt mit den echten Menschen, die sich einfach wegduckten, um den Fragen ihrer Kinder auszuweichen und sie zu umgehen.

Was für eine seltsame Art, erwachsen zu werden.

Während die "guten Soldaten" ihre "guten Waffen" mit roter Nelke vor der Horde von Lokalpolitikern und Ehrengästen aus dem internationalen kommunistischen Spektrum vorführten, servierten die Callboys in diesem Stasi-Untersuchungsgefängnis ihren politischen Gefangenen (die es eigentlich gar nicht gibt, wie der Staat immer wieder behauptet) ein prächtiges Frühstück und:

Broiler mit Kartoffelmus zum DDR Feiertag

Hühnchen mit Kartoffelpüree zum Mittagessen!
Das ist das beste Essen, das ich hatte, seit ich hier bin.
Es ist jetzt zwei Wochen her - ab morgen gibt es wieder harte Schwarzbrot und ranzige Margarine. 

Ich bin sicher, mein Vater wird die roten Fahnen in den Fenstern der Nachbarn heute hassen.

*Zeitzeugenbericht -> Beginn. Dieser Blogeintrag ist Teil eines linear erzählten Zeugenberichts des Zeitzeugen Jens Thieme der 1985-1986 als politischer Häftling in verschiedenen DDR Gefängnissen vom DDR Ministerium für Staatssicherheit eingesperrt wurde. Stasihaft, Stasi-Haft, Stasi Haft, Stasigefängnis, Stasi-Gefängnis, Stasi Gefängnis.
Jens Thieme

Playing hard, living loud, moving around fast, resting deep and enjoying it all.

https://jens.thie.me
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