Donnerstags
Stasi Gefängnis 28. Juli 1985
Die Zelle bleibt ganztägig geöffnet, wie immer am Sonntag.
Alle gehen ein und aus, Besuche in anderen Zellen.
Jeder, den ich bisher getroffen habe, ist ein politischer Gefangener.
Alle wollen meine Geschichte hören.
Sie alle bieten ihre moralische Unterstützung an.
Es ist wie eine ungeschriebene Regel oder eine Kultur:
Gib und Dir wird gegeben; Mitgefühl ist das grosse Thema hier.
Ich habe das Gefühl, dass Hunderte von gleichgesinnten Kameraden nur ein Ziel haben: MICH zu unterstützen!
Dies ist die erstaunlichste Energie, die ich je erlebt habe, und ich bin sehr froh darüber.
Die meisten Jungs sind wegen ähnlicher "Vergehen" hier:
Sie besetzten öffentliche Ämter, um ihren Willen, das Land zu verlassen, durchzusetzen.
Demonstranten gegen das repressive Regime, Künstler, die sich öffentlich äusserten.
Es gibt spannende Geschichten von Fluchtversuchen über die Grenze:
Der Typ, der einen Tag vor dem Start seines selbstgebauten Hubschraubers gefasst wurde.
Nachbarn lieferten ihn aus, als sie von seinen Vorbereitungen im Keller erfuhren.
Der olympische Wasserballspieler, der auf frischer Tat ertappt wurde, als er über einen der Grenzzäune sprang.
Er ist froh, dass er nicht weitergekommen ist, denn seine Vermutungen über die Lage der Landminen waren bestenfalls lückenhaft.
Und ein Typ, der in Berlin Adlershof mit einem selbstgebauten Drachen von einem hohen Industrieschornstein springen wollte, während Grenzsoldaten 20 Minuten lang direkt hinter ihm auf diesen kletterten.
Und dann gibt es noch die armen Seelen, die etwas mit ihren Familien ausprobiert haben.
Ihre Frauen sind inhaftiert, ihre Kinder in staatlicher Obhut.
Einige von ihnen sind schon seit Jahren hier.
Die Aufmerksamkeit aller ist auf sie gerichtet.
Ich lerne auch etwas über das Strafvollzugssystem und die Gefängnisse selbst.
Ich kann von Glück reden, dass ich statt in Hohenschönhausen, Hoheneck, Hohenleuben, Cottbus oder Bautzen in Naumburg gelandet bin.
Was die Familien betrifft: Sie versuchen, die Frauen zu brechen.
Es ist mehr als entsetzlich, was ihre Ehemänner über ihre Tortur berichten.
Doch keine von ihnen bricht jemals zusammen: Frauen sind unter solchem Stress viel stärker als Männer.
Ich kann nicht begreifen, wie schrecklich es ist, wenn Eltern 4-5 Jahre lang für ihre Überzeugungen eingesperrt werden, während sie nichts von und über ihre Kinder hören.
In Naumburg sind etwa 250 Gefangene inhaftiert, davon etwa 200 politische Gefangene.
Der Rest Kriminelle, verantwortlich für die Küche, Wäsche, Reparaturen.
Während sie Zugang zu Fernsehen, längeren Besuchszeiten, mehr Geld und besserem Essen haben, werden die politischen Gefangenen kurz gehalten.
Aber sie müssen in dieses beschissene Land zurückkehren.
Die politischen Gefangenen warten auf die Donnerstage.
An den meisten Donnerstagmorgen, wenn sich alle für die Arbeit fertig machen, rufen die Wächter die Glücklichen aus.
"SG**** - Sachen packen."
Sie gehen dann jeweils sofort.
Im Durchschnitt sitzen die meisten ihre Strafe zu 2/3 ab.
Es dauert wohl eine Weile, das Lösegeld auszuhandeln.
Ich bin bereits automatisch drei Anwälten zugeteilt:
Vogel (Ost-Berlin mit einem Mandat des Ostens zur Aushandlung von Lösegeldern oder -paketen), von der Schulenburg und Näumann (West-Berlin mit einem Mandat der westdeutschen Regierung).
10% der politischen Gefangenen werden wieder nach Hause entlassen.
Als Abschreckung, als Zeichen an die Dissidenten.
Vielleicht bleibe ich also noch 7 Monate hier, bevor sie mich über die Grenze fahren.
Oder ein weiteres Jahr, bis sich das Tor öffnet, damit meine Eltern mich abholen können.
Das werde ich nicht zulassen!
*Zeitzeugenbericht -> Beginn. Dieser Blogeintrag ist Teil eines linear erzählten Zeugenberichts des Zeitzeugen Jens Thieme der 1985-1986 als politischer Häftling in verschiedenen DDR Gefängnissen vom DDR Ministerium für Staatssicherheit eingesperrt wurde. Stasihaft, Stasi-Haft, Stasi Haft, Stasigefängnis, Stasi-Gefängnis, Stasi Gefängnis.