Summertime

Stasi Haft 21. Mai 1985

Heute ist Dirk’s Verhandlung.

Wir haben das ganze Wochenende lang diskutiert.

Wie ihn seine abgelehnte Auswanderungsanfrage frustriert hatte.

Wie er diesen Brief an den Bayerischen Rundfunk schrieb.

Er hat mir nie gesagt, ob er ihn tatsächlich abgeschickt hat oder nicht.

Ich habe ihm auch nie Einzelheiten über meinen Fall erzählt.

Wir müssen vorsichtig sein.

Wir haben noch etwas Englisch geübt.

“Sometime" klingt immer noch wie "Summertime".

Das hört sich lustig an, und ich korrigiere ihn trotzdem (oder deswegen) nicht.

Heute ist er super nervös.

Das ist verständlich.

Wie viel?

Ein Callboy holt ihn ab.

"Viel Glück!"

"Danke."

Glück?

Da ist ein junger Mann, der nicht in einem eingezäunten Land leben will, und sie lassen ihn nicht weg.

Als er jemanden um Hilfe bittet, wird er verhaftet und ins Gefängnis gesteckt.

Ich habe ein schlechtes Gefühl bei der Sache.

Baby Schubert ist heute übermässig freundlich.

Das ist so seltsam wie die Themen, die er wählt.

Kindheitserinnerungen, Familie, Freunde.

Ich langweile mich zu Tode.

"Wird das heute noch was?"

"Sie haben ein gutes Leben, lohnend und hoffnungsvoll."

Mein Gott!

"Dieser Staat macht es kaputt!"

"Vermissen Sie nicht Ihre Familie und Ihre Freunde?"

Dies ist aus Baby Schubert’s handschriftlichem Vernehmungsprotokoll. Ich habe es in den frühen 90er Jahren aus meiner Stasi-Akte erhalten.

Er notierte, dass er meine inneren Kreise auswerten wollte, um zu verstehen, "wer wer ist".

Auch auf seiner Liste: 'Möglichkeiten, ihn zurückzugewinnen'.

Das geht stundenlang so, bis tief in die Nacht hinein.

Späte Rückkehr in die Zelle.

Dirk weint.

"2 Jahre und 4 Monate".

"Das ist gar nicht so schlecht!"

"Was!?"

Um ehrlich zu sein, habe ich mit 4 Jahren gerechnet, mehr oder weniger.

"Ich habe den Brief nicht einmal abgeschickt, sondern nur geschrieben."

-Schweigen

Zeit für eine Umarmung.

"Schau: Du wirst in unter einem Jahr nach Westdeutschland verkauft."

"Ich kann nicht 28 Monate lang hier drin sein!"

Ich verspreche besser nichts, was ich nicht wissen kann.

In der Nacht wird mehr geweint.

Häufigere Lichtkontrollen.

Er wird das schon schaffen.

"Summertime"

*Zeitzeugenbericht -> Beginn. Dieser Blogeintrag ist Teil eines linear erzählten Zeugenberichts des Zeitzeugen Jens Thieme der 1985-1986 als politischer Häftling in verschiedenen DDR Gefängnissen vom DDR Ministerium für Staatssicherheit eingesperrt wurde. Stasihaft, Stasi-Haft, Stasi Haft, Stasigefängnis, Stasi-Gefängnis, Stasi Gefängnis.