Verboten
Stasi Haft 20. Juni 1985
Fünf Tage bis zur Verhandlung.
Die Gesellschaft der Jungs lenkt mich ab.
Allerdings habe ich heute etwas Schreckliches erfahren.
Offenbar ist es nicht wahr, dass meine Mutter aus Mangel an Kraft nicht zu Besuch kommt.
In ihrem heutigen Brief berichtet sie - am Boden zerstört wie immer - dass sie nicht zugelassen wird.
Hätte ich das gewusst, hätte ich den Hungerstreik wieder aufgenommen.
Papa hat das nicht erwähnt, also müssen sie ihn unter Druck gesetzt haben.
Die Begrenzung der Briefe auf eine Seite ist schon schlimm genug, aber die Regel, dass nur ein Elternteil zu Besuch kommt, ist grausam.
Für mich nicht, denn ich habe die ganze Zeit gewusst, warum ich hier bin und dass ich für meine Entscheidung einen Preis bezahlen muss.
Aber für meine Mutter.
Ich kann mir ihren Schmerz kaum vorstellen.
Warum haben wir hier nie darüber geredet?
"Hey Leute, wie viele Leute besuchen euch von eurer Familie?"
"Meine Mutter besucht mich, weil mein Vater nicht reisen kann."
"Eine Person ist die Regel. Warum fragst Du?"
Es hat keinen Sinn, sich jetzt zu beschweren oder dagegen anzukämpfen.
Am Dienstag werde ich mein Urteil erfahren.
Vielleicht bin ich schon am Donnerstag weg.
Den Rest der Nacht denke ich an meine Mutter.
Und ich freue mich auf das Gefängnis, wo auch immer das sein mag.
Weil ich meine Mutter bei den monatlichen Besuchen wiedersehen werde.
Und wenn nicht?
Ich werde wieder den Hungerblues singen.
Wenn sie kämpfen wollen, sage ich: nur zu!
*Zeitzeugenbericht -> Beginn. Dieser Blogeintrag ist Teil eines linear erzählten Zeugenberichts des Zeitzeugen Jens Thieme der 1985-1986 als politischer Häftling in verschiedenen DDR Gefängnissen vom DDR Ministerium für Staatssicherheit eingesperrt wurde. Stasihaft, Stasi-Haft, Stasi Haft, Stasigefängnis, Stasi-Gefängnis, Stasi Gefängnis.