Winzige Buchtaben

Stasi Haft 10. Juni 1985

Dies ist der erste Montag ohne Verhör.
Sie haben mich über das Wochenende in eine grössere Zelle verlegt.
Vier Betten, drei Insassen, ein Tisch, der diesen Namen verdient.

Timo ist ein schüchterner, grosser Kerl aus einem Dorf in der Nähe von Leipzig.
Sein Onkel aus Hamburg hat versucht, ihn unter die Beifahrerbank zu schmuggeln.
Sein Prozess wird Ende des Monats stattfinden, genau wie meiner.

Andreas ist ein rauer Kerl.
Ich bin mir nicht sicher, ob ich ihm vertrauen kann.
Nicht die hellste Kerze auf der Torte.

Für einen politischen Gefangenen ist er zu laut und seine Geschichte zu flach.
Ging im Wald bei Saalfeld in Richtung Grenze.
Wurde gefasst und behauptet, er habe versucht zu fliehen.

Ich bin überzeugt, dass er entweder betrunken vom Weg abgekommen ist oder etwas zu verbergen hat.
Keine Angaben zur Motivation oder dazu, wie sich seine Frustration aufbaute, um abzuhauen.
Wir haben einfach keine Schnittmengen und ich muss mit ihm vorsichtig sein.

Wir haben das ganze Wochenende Karten gespielt.
Die Bücher, die Andreas ausleiht, spiegeln seinen Intellekt wider.
Ich sollte nicht so voreingenommen sein, ich weiss, meine Mutter würde mich korrigieren.

Apropos:
Ich habe heute drei weitere Briefe von ihr erhalten.
Da nur eine Seite erlaubt ist, schreibt sie extrem klein.

Da mein Vater mich bei den monatlichen Besuchen besuchte, schrieb meine Mutter die Briefe. Sie quetschte so viel Inhalt wie möglich auf die Seite. Obwohl ich bei jedem einzelnen Satz spüren konnte, wie sehr sie leidet.

Es sieht so aus und liest sich so, als ob ihr Schmerz auch auf das Papier gepresst ist.
"Wie soll ich anfangen: Ich weine viel. Schlaf ist eine ferne Erinnerung."
Mit Wochen zwischen den Antworten zieht sich der Dialog in die Länge.

Hoffentlich können sie mich beide zusammen nach der Verlegung besuchen, wo auch immer sie mich hinbringen werden.
Die neue Kameraden lenken mich ab.
Ich zähle die Tage bis zum Prozess.

*Zeitzeugenbericht -> Beginn. Dieser Blogeintrag ist Teil eines linear erzählten Zeugenberichts des Zeitzeugen Jens Thieme der 1985-1986 als politischer Häftling in verschiedenen DDR Gefängnissen vom DDR Ministerium für Staatssicherheit eingesperrt wurde. Stasihaft, Stasi-Haft, Stasi Haft, Stasigefängnis, Stasi-Gefängnis, Stasi Gefängnis.