3-Seiten-Manifest
Stasi-Untersuchungshaft 23. April 1985
Baby Schubert scheint mein zugeteilter Vernehmungsbeamter zu sein.
Wenn ich es versaue, könnten sie ihn gegen Bully Schubert austauschen.
Das brauche ich nicht. Und ich kann in gewissem Umfang mit ihm spielen.
Uniform trägt er nie.
Und er nennt mich immer "Angeklagter".
Ich nenne ihn nie wirklich etwas, er fragt - ich antworte.
Oder auch nicht.
"Mit wem haben Sie das 3-seitige Manifest geteilt?"
-Schweigen
"Haben Sie es an irgendjemanden innerhalb oder außerhalb des Landes geschickt?"
-Schweigen
"Gibt es irgendwo noch mehr Dokumente dieser Art?"
"Sie hätten sie inzwischen gefunden, oder?"
"Ich stelle die Fragen."
-Stimmt.
Der Rest des Tages dreht sich um die Reisen meines Vaters als Messebauer für ostdeutsche Handelsorganisationen in westlichen Ländern.
Und andere Kontakte zu Menschen aus dem Westen.
Insbesondere Westdeutschland.
"Hat Ihr Vater viel über seine Reisen und seine Arbeit gesprochen?"
"Er mag seine Arbeit und er mag die Erfahrung."
"Mit wem hat er sich getroffen und mit wem hat er gearbeitet, außer mit seinen Kollegen?"
"Springen Sie gerade für Ihre Agenten ein?"
"Beantworten Sie die Frage, Angeklagter!"
"Fragen Sie ihn."
"Ich habe Ihnen mehrmals gesagt: Sie können sich entscheiden, zu kollaborieren oder..."
-oder Du verpfeifst mich, Weichei!
Gut, dass ich das nicht laut gesagt habe, sonst würde mich morgen Bully Schubert im Keller begrüßen.
Mario, unser Zellennachbar, erzählte von einer 'Kellerbehandlung' in einem Polizeirevier.
Zelle ohne Fenster, stockdunkel, vergammeltes Brot und dünner Tee für 3 Tage.
Das muss in den 60er Jahren noch viel schlimmer gewesen sein!
Heute fühlen SIE sich beobachtet.
Hoffe ich.
Der Tag endet mit weiteren Fragen zur berühmten Leipziger Messe.
Ich habe mich dort oft aufgehalten und einige Kontakte zu Leuten aus dem Westen geknüpft.
Nichts, was ein repressives Regime wie SIE nervös machen sollte.
Ich beschliesse dennoch, ein wenig mit diesem Thema zu spielen.
Ich beschreibe einige imaginäre Begegnungen an einem Messestand.
Imaginäre Menschen in einigen (realen) Bars und Kneipen.
"Sie lügen gerade, stimmt's?"
"Genau."
"Warum?"
"Ich schlage nur die Zeit tot."
Er scheint erleichtert zu sein, dass es für heute vorbei ist.
Ich frage mich, ob ich es zu weit getrieben habe.
Wir werden sehen, ob Bully Schubert morgen früh wieder auf der Matte steht.
Dirk versucht seine ersten Sätze auf Englisch, an die ich mich aus einem Englischkurs erinnere.
Sein 'sometimes' klingt wie 'summertimes'.
Ich beschliesse, ihn nicht zu korrigieren.
Dann kommt eben auf diese Weise ein bisschen Spass hier rein.
Ich habe den ganzen Abend ein schlechtes Gewissen wegen meiner Eltern.
Meine Mutter arbeitet als Abteilungsleiterin in der grössten Buchhandlung der Stadt. Ob sie da weiter machen darf?
Papa’s Job ist sicher vorbei, da er international unterwegs ist.
Was habe ich nur getan?
*Zeitzeugenbericht -> Beginn. Dieser Blogeintrag ist Teil eines linear erzählten Zeugenberichts des Zeitzeugen Jens Thieme der 1985-1986 als politischer Häftling in verschiedenen DDR Gefängnissen vom DDR Ministerium für Staatssicherheit eingesperrt wurde. Stasihaft, Stasi-Haft, Stasi Haft, Stasigefängnis, Stasi-Gefängnis, Stasi Gefängnis.