Heysel
Stasi Haft 4. Juli 1985
Duschroutine am Donnerstag.
Ich mag sie vor allem vor Besuchen.
Papa kommt heute und ich hoffe, es geht ihm besser.
Im Gegensatz zu unseren Zellen lassen die Fenster der Badezimmerzellen nur einen minimalen Blick nach draussen zu.
Das funktioniert nur, wenn ich unbeaufsichtigt bin, und da ich jetzt verurteilt bin, kann es den Wachen egal sein.
Vielleicht liegt es daran, dass sie mich nicht mehr verhören müssen oder dass sie mich kennen gelernt haben.
Das einzige Stück Himmel, das ich seit Mitte April gesehen habe, ist das über die Aussenzellen.
Jetzt, wo ich eine Lücke zwischen dem Fenster und dem Schild, das es verdeckt, finde, sehe ich den Hof für die "anderen" Gefangenen.
Neben dem Stasi-Gefängnis befindet sich ein Polizeigefängniskomplex, und die Jungs haben einen fussballfeldgroßen Platz zum Abhängen.
Wer ein Geschäft ausraubt oder seinen Nachbarn tötet, wird besser behandelt als die "Staatsfeinde".
Sie haben auch Fenster, die nur teilweise abgeschirmt sind, wie dieses hier.
Frische Luft also und eine Möglichkeit zur Kommunikation.
Niemand darf wissen, dass es in diesem Land politische Gefangene gibt.
Eines Tages erwähnte ich Schubert gegenüber eine Zahl, die ich gehört hatte.
"100'000 politische Gefangene seit 1949".
Natürlich behauptete er, sie sei vom Westen erfunden worden.
Wie so ziemlich alles andere, was ich vorgebracht habe.
Was für eine Verschwendung von menschlicher Haut dieser Typ.
Heute letzter Besuch bevor sie mich in das finale Gefängnis transportieren.
Papa sieht wirklich besser aus.
Ich bin erleichtert.
Er scherzt sogar ein wenig über die Strafe und den Staat.
"Ich weiss, dass ihr jemanden kennengelernt habt, keine Details, ich bin froh.
Der Wachmann versucht ebenfalls, ein desinteressiertes Gesicht zu machen.
Als ob sie nicht jedes Wort hier drin aufzeichnen würden.
"Wir können jetzt viel besser damit umgehen".
Er macht weiter Witze, scheint frei zu sein.
Die einzige dunkle Wolke heute: Der FC Liverpool.
Meine lebenslange Leidenschaft: ein Stadioneinsturz in Heysel.
Ich merke erst jetzt, dass solche sekundären Leidenschaften weit in den Hintergrund treten.
Dennoch gibt es Menschen, denen es viel schlechter geht.
Und ich bin froh, dass meine Eltern anscheinend viel besser zurechtkommen.
Ich kann es kaum erwarten, Einzelheiten zu erfahren, wenn sie mich gemeinsam im Gefängnis besuchen.
*Zeitzeugenbericht -> Beginn. Dieser Blogeintrag ist Teil eines linear erzählten Zeugenberichts des Zeitzeugen Jens Thieme der 1985-1986 als politischer Häftling in verschiedenen DDR Gefängnissen vom DDR Ministerium für Staatssicherheit eingesperrt wurde. Stasihaft, Stasi-Haft, Stasi Haft, Stasigefängnis, Stasi-Gefängnis, Stasi Gefängnis.