Posttag

Stasi-Gefängnis 25. Mai 1985

Samstag, wieder einmal allein.

Überraschung nach dem Frühstück.

Briefe aus der Heimat.

 

Der einzige Kontakt mit meiner Familie war der Besuch meines Vaters Anfang des Monats.

Jetzt bekomme ich Post von meinen Eltern.

Eine Menge Post!

Stasi-Büros. Die Post wurde sorgfältig geprüft und für eine monatliche Verteilung gesammelt. Die Obergrenze für das Schreiben war eine Seite, kein Bezug zum Fall und nur Familienmitglieder ersten Grades durften schreiben. Meine Eltern schrieben mehrere Briefe pro Woche. Ich habe nie erfahren, welche Briefe es nicht bis zu mir geschafft haben.

Sieben Briefe.

Jeweils eine Seite.

Der erste ist einen Monat alt.

 

Natürlich sind die Umschläge offen.

Natürlich wurden sie gründlich überprüft.

Natürlich stört mich das nicht im Geringsten.

 

Ich weiss, wo ich bin.

Ich schätze diese Briefe sehr.

Ich bin nicht allein mit all dem.

 

Die Briefe geben einen Einblick, wie meine Eltern das alles erlebt und verarbeitet haben.

Zu viele Fragen am Anfang, schier unerträglich.

Das Leiden ist zu schmerzhaft, um ihm einen Sinn zu geben.

 

Der dritte und vierte Brief sind bereits stärker.

Wir sind entschlossen, das gemeinsam durchzustehen.

Unerschütterliche Unterstützung und Traurigkeit.

 

Vielleicht sehen wir uns nie wieder.

Die Worte sind dort nicht geschrieben.

Aber wir alle wissen, dass es wahr ist.

 

Das schweisst sie zusammen.

Das macht sie stärker.

Ein Fundament.

 

Meine Eltern gaben uns ein warmes, liebevolles Zuhause in dem wir uns ausprobieren konnten, wachsen konnten, Fragen beantwortet wurden. 

Es war schon schwer genug, seinen Lebensunterhalt zu verdienen und mit dem Strom zu schwimmen.

Sehr viel mehr war nicht möglich.

 

Geboren und aufgewachsen in der Hölle des Krieges, war ihr Appetit auf Leid und Gräueltaten gleich Null.

Ich würde es ihnen nie verdenken, wenn sie das, was sie aufgebaut und zu schützen versucht haben, nicht verlassen würden.

Zu sehen, wie sie herumgeschubst und ihrer Freiheiten beraubt wurden, hat mich wahnsinnig gemacht.

 

Der siebte Brief ist von vor zwei Tagen.

Papa freut sich schon auf den nächsten Besuch.

Ich werde ihn nächste Woche wieder sehen, ich kann es kaum erwarten.

 

Grüsse von meinem Bruder, meinem besten Kumpel und meiner Freundin.

Werde ich sie jemals wiedersehen?

Sind sie auch in Schwierigkeiten?

*Zeitzeugenbericht -> Beginn. Dieser Blogeintrag ist Teil eines linear erzählten Zeugenberichts des Zeitzeugen Jens Thieme der 1985-1986 als politischer Häftling in verschiedenen DDR Gefängnissen vom DDR Ministerium für Staatssicherheit eingesperrt wurde. Stasihaft, Stasi-Haft, Stasi Haft, Stasigefängnis, Stasi-Gefängnis, Stasi Gefängnis.
Jens Thieme

Playing hard, living loud, moving around fast, resting deep and enjoying it all.

https://jens.thie.me
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