Warten auf den Weihnachtsmann
Stasi Haft 29. Mai 1986
Kulas.
Ich habe ihn heute getroffen.
Nach dem Frühstück holten sie mich aus der Zelle.
Es dauerte 6 Wochen, bis sie mein Schreiben über die Ablehnung der Wiedereingliederung bearbeiteten.
Erst dachte ich, sie würden mich richtig verprügeln.
Vielleicht haben sie einfach einen anderen Weg versucht.
Kulas sass hinter seinem Schreibtisch in einem erstaunlich kleinen Büro.
Ein massiger Mann in den 50ern, dunkelhaarig.
Zunächst musterte er mich lange.
"Sie glauben also, dass das Schreiben solcher Briefe Sie ans Ziel bringt?"
"Ich weiss nicht, was ich einem Staat glauben soll, der ständig alle anlügt."
Fange ich einen Streit an, der mich in etwas hineinzieht, aus dem ich nicht mehr herauskomme?
Zu meiner Überraschung blieb er ruhig und studierte mich weiter.
Er blätterte durch meine Akte und lächelte hier und da.
"Du bist zu klug, um irgendwelche Spielchen zu spielen, THIEME."
"Keine Spielchen.
Ihr wollt nicht verstehen, dass ich bei euch nichts verloren habe.
Und wenn ich dabei sterbe, werde ich alles versuchen, um aus diesem Land zu kommen, und wenn es das Letzte ist."
Das war das erste Mal seit fast einem Jahr, dass ich meinen Namen von einem Beamten gehört habe.
Er hörte sich meine Schimpftiraden an, aber fokussierte auf die weitere Inhaftierung.
"Es ist mir egal, ob ich am Tag nach meiner Entlassung wieder hier lande!"
"Kein zusätzliches Schreiben wird Sie schneller auf die andere Seite bringen".
Ich habe mich gefragt, was er mir sagen wollte.
Er sprach in Rätseln.
"Das ist wie die Vorfreude auf den Weihnachtsmann”.
Weiss er etwas, oder wollte er mich nur wieder auf Linie bringen?
Unmittelbar nach der Besprechung brachten sie mich wieder auf Kommando zurück, zu meinen Kameraden.
Wir verbrachten die Nacht mit Neuigkeiten und Geschichten.
Die Frau eines Mitgefangenen hatte versucht sich in im Stasi-Frauengefängnis Berlin-Hohenschönhausen zu erhängen.
Der Reaktorunfall von Tschernobyl schien die Öffentlichkeit weniger zu beunruhigen.
Rudolf ist immer noch hier und hat das leckerste Abendessen für uns zubereitet.
Er lässt sich seine Sorgen nicht anmerken, seine Strafe endet in nur etwa 6 Wochen.
Sind wir beide dazu verdammt, bis zum Ende zu bleiben und uns draussen wieder zu treffen?
Dann sollten wir etwas Grosses organisieren.
Aber so lange will ich nicht warten.
Das wird am 13. August geschehen.
*Zeitzeugenbericht -> Beginn. Dieser Blogeintrag ist Teil eines linear erzählten Zeugenberichts des Zeitzeugen Jens Thieme der 1985-1986 als politischer Häftling in verschiedenen DDR Gefängnissen vom DDR Ministerium für Staatssicherheit eingesperrt wurde. Stasihaft, Stasi-Haft, Stasi Haft, Stasigefängnis, Stasi-Gefängnis, Stasi Gefängnis.